Stadtbahn-Gespräche im Käsekult

Pfullingen, 11. Februar 2016:

Seit Jahren schon gibt es Diskussionen, eine Zweigstrecke der Straßenbahn von Reutlingen nach Pfullingen zu bauen. In Pfullingen hat die Straßenbahn viele Fürsprecher, aber mindestens ebenso viele Kritiker: sie sei zu teuer, außerdem gebe es nicht genug Platz in den engen Straßen. Erst, als der Pfullinger Lederfabrikant Schlayer den Druck auf den Gemeinderat erhöht, gelingt der Durchbruch. Im Juni werden die ersten Schienen nach Pfullingen verlegt.

Das war vor genau 100 Jahren. 1916 begann der Streckenbau zwischen Reutlingen-Südbahnhof und Pfullingen-Laiblinsplatz.

Am vergangen Donnerstagnachmittag nahmen etwa zwanzig Pfullinger Bürger die Gelegenheit wahr, mit Verkehrsexperten über eine neue Schienenanbindung Pfullingens zu diskutieren. Hierzu waren eigens der Reutlinger Landtagsabgeordnete Thomas Poreski, der Verkehrspolitische Sprecher der GRÜNEN Bundestagsfraktion Matthias Gastel, und Jochen Gewecke, Vorstand von ProRegioStadtbahn e.V., in den Spezialitätenladen „Käsekult“ am Pfullinger Marktplatz angereist. Als vierter Verkehrsexperte kam später Bernd Weckler, Geschäftsführer der Schwäbische Alb-Bahn, hinzu.

Weitere Experten hatten sich unter das Publikum gemischt, etwa Winfried Müller vom Brauchtumsverein, der die historische Parallele zu 1916 einbrachte. Auch damals sei die Skepsis zunächst groß gewesen. Von heute rückblickend zeigt sich, dass die Pfullinger Straßenbahn entscheidend zu einer guten Stadtentwicklung beigetragen hat. Doch in den 1970’er Jahren galt ausschließlich das Auto als Fortbewegungsmittel der Zukunft. Und so wurden damals die Gleise wieder entfernt, der Bahndamm wurde in einen Fuß- und Radweg umgewandelt.

Die Regionalstadtbahn Neckar-Alb (RSB), die in einigen Jahren unter anderem von Reutlingen über Pfullingen nach Unterhausen fahren soll, knüpft an die Idee der alten Straßenbahn an. Dennoch handelt es sich hierbei um etwas ganz Neues, wie Gewecke betont. Die RSB verbindet die Vorteile von Eisenbahn und Straßenbahn. In der Innenstadt fährt sie wie eine Straßenbahn, eng getaktet, mit vielen Haltestellen. So sind allein im Pfullinger Stadtgebiet sechs Haltestellen geplant. Außerhalb der Stadt bekommt die RSB den Charakter eines Regionalzugs. Hier fährt sie mit höherer Geschwindigkeit und geringerer Dichte an Haltepunkten. Damit sind auch die Städte im Umland (Albstadt, Horb, Engstingen, Münsingen) direkt an das Zentrum um Tübingen und Reutlingen-Pfullingen angebunden.

Die Vorzüge der Regionalstadtbahn für Pfullingen liegen auf der Hand: Der Verkehrsfluss auf den Straßen verbessert sich, Pendlerzeiten verkürzen sich, die Kinder kommen schneller zur Schule und Berufstätige müssen auf dem Weg ins Büro nicht mehr umsteigen. Das Referenzbeispiel der RSB Karlsruhe zeigt eine deutliche Belebung der Innenstädte, und zwar nicht nur für die Karlsruher Kernstadt, sondern auch für die angegliederten umliegenden Ortschaften. Eine deutliche Stärkung des lokalen Einzelhandels ist die Folge. Die Grundstückswerte steigen merklich, gleichzeitig wird das Problem der akuten Wohnraumknappheit entschärft, da ein Pendelverkehr zu den umliegenden Gemeinden im 15-Minuten-Takt besteht. Dieser Mehrwert für die Region lässt sich mit der sogenannten „Standardisierte Bewertung“ auch wissenschaftlich messen. Eine „Standardisierte Bewertung“ ermittelt das volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnis von Infrastrukturmaßnahmen. Für die RSB Neckar-Alb wurde ein Wert von 1,4 errechnet. Jeder investierte Euro zahlt sich also mit einem volkswirtschaftlichen Nutzen von 1,40 Euro aus.

Die Planung

Die Regionalstadtbahn wird in drei Modulen umgesetzt. Modul 1 umfasst den Umbau bestehender Gleisverbindungen für die RSB. Dazu gehört etwa die Elektrifizierung von Ermstalbahn und Ammertalbahn (beides bereits beschlossen). Die Planung der Tübinger Innenstadtstrecke ist bereits ausgeschrieben. Auch für den Streckenabschnitt in Pfullingen (Modul 2) müsste jetzt mit der Planung begonnen werden. Je länger hier auf Gemeindeebene die konkrete Ausplanung hinausgezögert wird, umso länger wird es dauern, bis bei uns die erste Bahn rollt. 
Fazit Gastel: „Wer von ein Projekt will, sucht sich Wege. Alle anderen suchen lieber nach Hindernissen.“

Die Trassenführung

Für Pfullingen kommen zwei Trassenvarianten infrage: Einerseits auf dem bestehenden Bahndamm (jetzt Fuß- und Radweg), am alten Bahnhof vorbei. Andererseits auf der Marktstraße, mitten durch die Stadt. Beide Varianten haben ihre Vorzüge. Die alte Bahntrasse wäre planerisch einfacher. Sie wurde bis heute von weiterer Überbauung frei gehalten, ist wohl auch formell noch nicht entwidmet worden. Andererseits ist der Einzugsbereich der Haltestellen deutlich größer, wenn die Streckenführung durch die Pfullinger Innenstadt verläuft. Für eine stärkere Belebung der Pfullinger Innenstadt ist es daher wichtig, dass auch die Haltestellen der RSB in der Innenstadt liegen. Auch die Wissenschaftler, auf deren Gutachten die „Standardisierte Bewertung“ beruht, gingen daher von der Marktstraßen-Trasse aus. Im Rahmen einer Fachplanung sind die beiden Varianten vergleichend abzuhandeln. Anschließend kann der Gemeinderat auf dieser Basis eine Entscheidung treffen. 
Fazit Weckler: „Ich sehe das Projekt nicht erst in 20 Jahren. Aber dafür muss jetzt mit der Planung der Trasse begonnen werden!“

Die politische Situation

Die Regionalstadtbahn Neckar-Alb hat Fürsprecher auf allen Ebenen in allen politischen Lagern (vgl. etwa „GEA-Kandidatencheck“ vom 11. Februar 2016). Auf Landesebene ist die RSB jüngst in die Liste der zehn wichtigsten Infrastrukturprojekte Baden-Württembergs aufgenommen worden. Das sei äußerst ungewöhnlich, so Poreski, handele es sich doch um ein Projekt, für das bislang noch keine detaillierte Planung vorliege. Es zeige aber, dass auch die grün-rote Landesregierung großes Potenzial in der RSB Neckar-Alb sieht und das Vorhaben entsprechend vorantreiben möchte. Auf Bundespolitik hingegen seien derartige Infrastrukturprojekte aktuell kein Gesprächsthema, wie Gastel zugeben musste. Das CSU-geführte Verkehrsministerium sei immer noch vorwiegend mit der Idee „Maut für EU-Ausländer“ beschäftigt. Aber über die Verlängerung des „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes“ sei die finanzielle Beteiligung des Bundes inzwischen gesichert – und die beläuft sich immerhin auf 60% der förderfähigen Gesamtkosten.

Für die Planung zuständig ist aber die regionalen Ebene. Hier, so bemängelt Gewecke, gingen die beteiligten Städte und Gemeinden leider nicht alle mit der gleichen Entschlossenheit vor. Während Tübingen längt die konkrete Ausplanung der Innenstadtstrecke beschlossen hat und auch in Reutlingen über alle Fraktionen hinweg große Aufbruchstimmung herrscht, würde die Regionalstadtbahn im Pfullinger Gemeinderat immer noch nicht so richtig ernst genommen. 
Fazit Gewecke: „Wer laut schreit, wird wahrgenommen. Jetzt ist es wichtig, das Signal zu senden: Ja, wir wollen die Regionalstadtbahn in Pfullingen!“

Die Finanzierung

Die Finanzierung scheint einerseits der größte Unsicherheitsfaktor zu sein. Skeptische Pfullinger Bürger und Gemeinderäte führen als Grund für ihre Skepsis meist die ungeklärte Finanzierung an. Das ist vernünftig, wenn man bedenkt, dass es hier um die stattliche Gesamtsumme von einer Milliarde Euro geht. Aus Pfullinger Sicht ist das eine angsteinflößende Größenordnung. Wenn man nun aber bedenkt, dass diese Projektkosten letztlich auf alle beteiligten Städte und Gemeinden umgelegt werden, dass sowohl der Bund, als auch die Landesregierung ihren Teil der Finanzierung bereits zugesagt haben, und dass die für die einzelnen Gemeinden verbleibenden Restkosten über mehrere Jahre abgeschrieben werden, verliert die Finanzierungsfrage ihren Schrecken. Letztlich, so sind sich alle anwesenden Experten einig, ist die Finanzierung so sicher, wie es nur sein kann bei einem Projekt dieser Größenordnung. Das Zaudern mancher Lokalpolitiker lasse sich damit jedenfalls nicht erklären. 
Fazit Poreski: „Die Bahn bekommt der, der die Pläne auf den Tisch legt. Solange die Planung nicht vorankommt, werden auch keine Schienen verlegt, egal, ob die Finanzierung steht oder nicht.“

Das Expertengespräch war Teil einer Veranstaltungsreihe zur Regionalstadtbahn Neckar-Alb der Grün-Alternativen Liste Pfullingen (GAL).

Für die GAL Pfullingen
Paul Sigloch